Industriestandort Schweiz
Lange spielte sie in der Schweiz kaum eine Rolle, doch nun ist sie in aller Munde – die Industriepolitik. Wie sieht die Zukunft der Industrie in der Schweiz aus? Und welche Position vertritt die Gewerkschaft Syna in dieser Frage? Im Gespräch mit Nora Picchi, Leiterin Gewerkschaftspolitik, und Johann Tscherrig, Vorsitzender der Geschäftsleitung von Syna.
Wer in den letzten Monaten die Zeitungen aufgeschlagen hatte, las viel über die kriselnde Industrie in der Schweiz – sei es bei Vetropack, Flyer oder zuletzt in der Stahlindustrie. Doch was ist los mit dem Industriestandort Schweiz?
Picchi: Es ist wichtig zu betonen, dass nicht die gesamte Industrie in der Krise steckt. Vor allem die Pharmaindustrie und Unternehmen, die hochspezialisierte Güter produzieren, stehen wirtschaftlich gut da. Schwierigkeiten gibt es hingegen in der klassischen produzierenden Industrie. Diese kämpft besonders mit den höheren Produktionskosten in der Schweiz im Vergleich zum Ausland. Neben hohen Personalkosten spielen hier – wie im Fall der Stahlindustrie – auch die hohen Strompreise eine Rolle.
Tscherrig: Die Stahlproduktion ist extrem energieintensiv. Viele Länder subventionieren ihre Industrie mit stark vergünstigten Strompreisen. Die Schweiz hat bislang auf solche Massnahmen verzichtet, was dazu führte, dass in der Schweiz produzierter Stahl teurer ist als importierter. Dadurch ging die Nachfrage zurück. In der Folge haben Unternehmen wie Stahl Gerlafingen und Swiss Steel Kündigungen angekündigt. Auf massiven Druck der Gewerkschaften und der Angestellten haben National- und Ständerat Stromvergünstigungen für die Stahlkonzerne beschlossen. Diese gelten für die nächsten Jahre und sind an Bedingungen, wie den Verzicht auf Dividendenausschüttungen und Investitionen in die Produktionsstandorte geknüpft.
Picchi: Das ist ein erster Schritt, der den Unternehmen etwas Handlungsspielraum und Planungssicherheit gibt. Ob sie sich auf die Bedingungen einlassen und ob die Stahlindustrie langfristig in der Schweiz erhalten bleibt, ist damit aber noch nicht gesichert.
Noch im Frühling sagte Bundesrat Parmelin: «Die Schweiz macht keine branchenspezifische Industriepolitik.» Warum der Wandel?
Tscherrig: Ich finde diese Aussage von Parmelin irritierend. Bei der Landwirtschaft betreiben wir seit Jahren gezielte Branchenförderung, um sie vor der Konkurrenz aus dem Ausland zu schützen. Dass die Schweiz jetzt eine spezifische Branche unterstützt, ist also nicht wirklich neu.
Picchi: Beim Stahl war der Druck auf die Politik aber besonders gross. Einerseits wäre der Verlust von Arbeitsplätzen in den betroffenen Kantonen für regionale Politiker schwer zu erklären gewesen. Andererseits spielt auch die ökologische Komponente eine Rolle: In der Schweiz wird viel Recyclingstahl aus Bauschutt hergestellt. Dieser ist nachhaltiger als importierter Stahl und macht uns unabhängiger von internationalen Lieferungen.
Tscherrig: Die Politik muss eine Grundsatzentscheidung treffen: Wollen wir eine produzierende Industrie in der Schweiz erhalten oder nicht? Wenn ja, müssen wir auch entsprechend handeln. Beim Stahl könnte das bedeuten, dass bei öffentlichen Bauprojekten nur noch Stahl verwendet wird, der in der Schweiz produziert wurde. Stromvergünstigungen allein reichen nicht aus.
Picchi: Das ist natürlich einfacher gesagt als getan. Solche Massnahmen könnten Konflikte mit unseren europäischen Handelspartnern auslösen. Trotzdem müssen wir in diese Richtung denken. Ohne produzierende Industrie wären wir komplett auf Importe angewiesen – ein grosses Risiko. Die Coronakrise und die Probleme mit internationalen Lieferketten haben gezeigt, dass in Krisensituationen jedes Land zuerst auf sich selbst schaut.
Was passiert, wenn die Schweiz ihre Industrie nicht schützt, sondern sich komplett auf den internationalen Markt verlasst, wie es der Wirtschaftsverband Economiesuisse fordert?
Tscherrig: Bis 2035 hätten wir wohl kaum noch eine klassische produzierende Industrie in der Schweiz. Hochspezialisierte Branchen wie die Mikrotechnik oder Produzenten von Spezialteilen könnten sich halten, aber die traditionelle Industrie würde verschwinden. Selbst in Zukunftsbranchen wie bei Solarpanelherstellern sehen wir, dass die internationale Konkurrenz schnell lernt und günstiger produziert.
Picchi: Für die betroffenen Arbeitnehmenden wäre das ein harter Schlag. Wir müssen sicherstellen, dass Menschen, deren Branchen verschwinden, gute Umschulungsmöglichkeiten erhalten. Jeder hat das Recht, beruflich eingebunden zu sein und Teil der Gesellschaft zu bleiben.
Tscherrig: Deshalb sollten wir die Arbeitslosenversicherung neu denken – nicht nur als Arbeitslosen-, sondern auch als Weiterbildungsversicherung. Sie sollte so gestaltet sein, dass Menschen während der Arbeitslosigkeit die Möglichkeit haben, sich gezielt weiterzubilden oder umzuschulen.
Heisst das, eine arbeitslose Person, die in einer Branche mit wenig Zukunftsperspektiven ausgebildet wurde, konnte etwa ein Jahr lang eine Umschulung machen und dabei weiterhin Arbeitslosengeld beziehen?
Picchi: Genau. Nehmen wir als Beispiel einen Stahlarbeiter. Viele dieser Menschen haben sehr spezifische Fähigkeiten, die oft nicht in anderen Bereichen gebraucht werden. Wenn die Stahlindustrie verschwindet, wäre es illusorisch zu glauben, dass sie schnell eine neue Anstellung finden, die ihrem Profil entspricht. Mit einer längeren Umschulung oder Weiterbildung könnten sie jedoch eine Arbeit finden, die zu ihren neuen Fähigkeiten passt – eine Arbeit, die ihnen Freude macht und von der auch die Gesellschaft profitiert.
Tscherrig: Ein Industriearbeiter könnte beispielsweise in einem kaufmännischen Beruf gut aufgehoben sein, während ein anderer seine Zukunft vielleicht in der Gastronomie sieht. Die Umschulung sollte die Menschen dorthin bringen, wo der Arbeitsmarkt sie braucht und wo sie ihre Fähigkeiten sinnvoll einsetzen können.