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«Wenn der Gewinn zum wichtigsten Ziel wird, kommt der Mensch unter die Räder.»

Thomas Wallimann-Sasaki ist Wirtschaftsethiker und Theologe. Der Regionalpräsident von Syna Ob- und Nidwalden im Gespräch darüber, wem Systeme dienen und warum wir wieder mehr miteinander reden sollten.

Konrad Adenauer hat kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt: «Die Wirtschaft soll dem Menschen dienen und nicht der Mensch der Wirtschaft». Wo befinden wir uns deiner Ansicht nach?

Das Zitat von Adenauer ist tatsächlich älter und stammt aus der Gründungszeit der ersten christlichen Gewerkschaften und ist Basis dessen, was später als katholische Soziallehre bekannt wurde. Es kritisiert eine Entwicklung unserer Wirtschaft, die insbesondere im Kapitalismus den Menschen zu einem Zahnrad des Systems macht.

Diese Gefahr, dass Menschen von den von ihnen selbst geschaffenen Systemen überrollt werden, zeigt sich aber nicht nur im Wirtschaftssystem. Jede Organisation, insbesondere Bürokratien, neigt dazu, in komplexen Situationen Systeme und Prozesse zunehmend in den Vordergrund zu rücken, wodurch sie nicht immer den Interessen der Menschen gerecht werden. Wir müssen uns daher stets fragen, wie wir Systeme gestalten, damit sie ihren Zweck nicht verlieren und sich nicht verselbstständigen.

Wie gut ist das in der Wirtschaft gelungen?

Bereits die ersten Fabrikgesetze im 19. Jahrhundert zeigen, dass die Wirtschaft Regeln braucht. Später ist die Entwicklung des Sozialstaates eine grosse Errungenschaft, die den Menschen ins Zentrum rückt. Auch ein gut ausgebautes öffentliches Bildungssystem kann als Beispiel gelten. In der Arbeitswelt sind es konkret auch die Gesamtarbeitsverträge, die wesentliche Bestandteile dieses Fortschritts sind. Doch diese Arbeit ist nie abgeschlossen. Wir müssen nicht nur weiterhin für Fortschritte kämpfen, sondern auch sicherstellen, dass bereits Erreichtes nicht wieder verloren geht. Und trotz all dieser positiven Entwicklungen gibt es immer noch erhebliche Ungleichheiten in unserer Gesellschaft.

Eine solche Ungleichheit sind beispielsweise Lohnunterschiede. Während Topbanker Millionen verdienen, verdienen andere Menschen einen Bruchteil davon. Wie kommt das?

Der Kapitalismus sagt uns etwas zugespitzt, dass sinnvoll ist, was viel Geld bringt. Jobs, die hohe Gewinne erzielen, werden entsprechend gut bezahlt. Dabei wird häufig übersehen, dass dieses Geld nicht einfach vom Himmel fällt; oft sind es Menschen oder die Natur, die darunter leiden.

Ich denke, die Mehrheit der Menschen empfindet eine vorrangige Orientierung am Profit als nicht gerechtfertigt. In unserem Land können wir über Abstimmungen, aber auch Lohnverhandlungen unsere Verantwortung wahrnehmen. Wir können zumindest fragen, was uns wirklich wichtig ist, und immer auch wieder mitzugestalten versuchen, indem wir andere Ziele einbringen als Profit; etwa, wenn wir Löhne nach gesellschaftlicher Wichtigkeit gestalten würden: Dann verdienen Angestellte der Müllabfuhr oder in der Pflege wohl deutlich mehr.

Die Pflege ist ein gutes Beispiel: Zeigt die deutliche Annahme der Pflegeinitiative, dass eine Mehrheit der Stimmberechtigten sich eine andere Wertung der Arbeit wünscht?

Absolut. Mit der Annahme hat die Stimmbevölkerung klar gezeigt, dass ihr eine gute Pflege wichtiger ist als profitorientierte Spitäler. Eine hochwertige Pflege ist entscheidend für ein funktionierendes Gesundheitssystem. Leider hat das Parlament die Umsetzung stark abgeschwächt. Doch solange im Parlament Personen sitzen, die den Erfolg eines Spitals an der Jahresbilanz messen und Spitalleitungen oder auch Krankenkassen zuerst ans Geld und dann an die Menschen denken, ist es unrealistisch zu erwarten, dass sich selbst durch eine Initiative grundlegend schnell etwas ändern wird.

Dies verdeutlicht ein zentrales Problem: Die Profiteure von Systemen geben dieses nicht einfach auf, sondern setzen sich für deren Fortbestand ein. Das erschwert es, bestehende systemische Fehler zu korrigieren und führt dazu, dass wir oft in Situationen verharren, die der Gesamtgesellschaft nicht zugutekommen. Die Forderung, dass Systeme den Menschen dienen müssen, bleibt darum aktuell.

Wenn selbst Initiativen wenig bewegen, sind wir den Systemen gegenüber ohnmächtig?

Nein – auch wenn es sich oft so anfühlt. Viele Menschen merken, dass etwas nicht stimmt, oder dass sie ausgenutzt werden. Leider zeigt sich hier auch die Schattenseite der Individualisierung. Viele scheinen Angst zu haben, Dinge gemeinsam anzugehen und zusammen für Veränderungen zu kämpfen. Wir Menschen brauchen Mut, um gemeinsam neue Wege zu beschreiten und echte Veränderungen herbeizuführen.

Wie kann es uns gelingen, unsere Werte zu etablieren?

Ich glaube, dass die meisten Menschen das gleiche Ziel teilen: eine Gesellschaft, in der sich alle respektiert, geschätzt und gesehen fühlen. Der Schlüssel liegt im Dialog. Einerseits findet man Gleichgesinnte, andererseits fördert es das Verständnis für Andere. So können wir darüber reden, was uns wirklich wichtig ist. Man weiss, dass Arbeitnehmende die Entscheidungen ihrer Vorgesetzten besser verstehen, wenn sie in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Ebenso erlebe ich viele Arbeitgebende, die grosses Verständnis für die Anliegen ihrer Angestellten haben.

Wenn wir unsere Werte, das was uns wirklich wichtig ist, kennen und benennen können, dann gilt es herauszuarbeiten, wie sie in der konkreten (Arbeits-)Welt umgesetzt werden können. So haben wir es geschafft, zum Beispiel Rücksicht auf Schwächere in Vorruhezeitmodelle einzubauen. Solidarität wird dann konkret. Gelingt uns dies im Kleinen wie auch in der Gesellschaft, dann leisten wir alle einen Beitrag dazu, dass Systeme und Institutionen wirklich für die Menschen da sind.

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