Gleiche Chancen für alle?
Unser Kongressdokument fordert es deutlich: Alle Arbeitnehmenden sollen eine faire Teilhabe am Arbeitsleben haben. Voraussetzung dafür sind gerechte Bildungschancen, damit die verschiedenen Bildungswege allen offenstehen.
Erinnerst du dich noch an deine Antwort auf die Frage, was du später einmal werden möchtest? War es Polizistin, Tierärztin, Pilotin oder Feuerwehrmann? Dies sind bei den Kids die Topantworten. Doch oft führt einen der Bildungsweg an einen anderen Ort, als man es als Kind gedacht hätte. Neu entdeckte Talente und andere Interessen können eine Rolle spielen, manchmal stehen einem aber auch systembedingte Hindernisse im Weg.
Bildung wird vererbt
Der eigene Bildungsweg, ob Berufslehre oder Gymnasium, hängt nicht nur von individuellen Faktoren ab, sondern stark vom eigenen sozialen Umfeld. Kinder aus Akademikerfamilien wechseln mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent nach der obligatorischen Schule ans Gymnasium. Im Gegensatz dazu beträgt dieser Anteil bei Kindern aus Arbeiterfamilien lediglich 24 Prozent. «Unser Bildungssystem sollte darauf abzielen, dass jedes Kind entsprechend seinen Neigungen, Begabungen und Interessen den passenden Bildungsweg einschlägt. Dass sich die Bildungswege der Kinder meist denen der Eltern ähneln, zeigt, dass wir unser Bildungssystem weiter öffnen müssen», sagt Gabriel Fischer, Bildungsverantwortlicher bei Travail.Suisse.
Frühe Selektion wirkt verstärken
Schon nach sechs Jahren Primarschule entscheidet sich in der Schweiz, in welche Stufe die Schülerinnen und Schüler eingeteilt werden. Einzig im Tessin erfolgt dieser Schritt später. Der frühe Selektionsprozess verstärkt laut Fischer bestehende Ungleichheiten.
Eltern mit akademischem Hintergrund können ihre Kinder oft besser unterstützen. Diese Unterstützung ist für Eltern mit niedrigerer Bildung und Eltern mit Migrationshintergrund aufgrund sprachlicher Barrieren schwieriger. In fast allen OECD-Ländern bleiben die Klassen bis in die neunte oder zehnte Klasse leistungsmässig durchmischt. Unterschiede bei den schulischen Kompetenzen können so länger aufgeholt und Kinder, die eine Lernblockade erst später lösen, einfacher gefördert werden. «Die Selektion sollte auch in der Schweiz erst später stattfinden », resümiert Fischer.
Mehr Geld, mehr Möglichkeiten
Nebst dem sozialen Umfeld und der Ausgestaltung des Bildungssystems bestimmt auch die finanzielle Lage der Familie den eigenen Werdegang. Private Nachhilfe können sich Familien mit niedrigem Einkommen oft nicht leisten. Zudem spielen für Akademikerkinder die Kosten der höheren Bildung oft kaum eine Rolle. Im Unterschied zu Kindern aus ärmeren Familien müssen sie nicht möglichst rasch Geld verdienen und sich aus Kostengründen gegen ein Studium entscheiden.
Durchlässigkeit fördern
Trotz dieser Mängel ist das Schweizer Bildungssystem, egal welcher Weg eingeschlagen wird, keine Sackgasse. Dank dem dualen Bildungsweg kann auch nach der Lehre ein höherer Abschluss gemacht und über die Berufsmatur an einer Fachhochschule und via Passerelle an einer Universität studiert werden. «Das Bild, dass der Weg übers Gymnasium an die Uni der Königsweg ist, ist falsch. Arbeitnehmende, welche nach einer Berufslehre eine eidgenössische Berufsprüfung, eine höhere Fachprüfung oder einen Abschluss an einer höheren Fachschule gemacht haben, sind auf dem Arbeitsmarkt genauso gefragt wie Universitätsabgänger. Mit einer Berufsmaturität ist ausserdem auch ein Studium an einer Fachhochschule möglich», betont Fischer und unterstreicht: «Diese Vielfältigkeit müssen wir fördern. Ziel sollte ein Bildungssystem sein, in welchem alle Wege für alle gleich offen sind. Sprich, dass es für Arbeiterkinder genauso eine Möglichkeit ist, ein Studium zu machen, wie sich als Akademikerkind für eine Berufslehre zu entscheiden. Gleichzeitig darf diese Durchlässigkeit nicht als Entschuldigung dienen, um Kinder, die eigentlich das Potenzial für das Gymnasium hätten, auf später zu vertrösten.»
Verlorenes Potenzial
Eine Studie der «Alliance Chance+» beziffert den wirtschaftlichen Schaden durch mangelnde Chancengleichheit auf über 20 Milliarden Schweizer Franken. Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schweiz bedeutende Potenziale und Talente verliert, wenn nicht alle Menschen faire Chancen erhalten. Dass sich viele gegen eine Weiterbildung entscheiden, hat oft auch finanzielle Gründe. «Arbeitnehmende müssen für die Ausbildung ihr Pensum reduzieren, wodurch ihr Einkommen während der Weiterbildung deutlich sinkt. Firmen wiederum haben wenig Anreize zu investieren, da sie befürchten, dass ihre Mitarbeitenden nach der Weiterbildung zu einem anderen Arbeitgeber wechseln. Hier braucht es neue Finanzierungsmodelle auf nationaler Ebene», bilanziert Fischer.
Bessere Frühförderung, spätere Selektion, grössere Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen, eine breitere Finanzierung in der Erwachsenenbildung und ausgebaute Unterstützung über die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung als Service Public – so könnte man den Lösungskatalog des Bildungsexperten für gerechtere Bildungschancen zusammenfassen. Damit unerfüllte Berufswünsche aus Kindertagen auf geänderte Interessen und nicht auf geringere Bildungschancen zurückzuführen sind.