Grundlage für eine gerechte Lohnentwicklung
Im Herbst finden jeweils in vielen Branchen die Lohnverhandlungen für das kommende Jahr statt. Die Gewerkschaften fordern je nach Branche zwischen zwei und fünf Prozent mehr Lohn. Doch worauf stützen sich diese Forderungen?
Löhne sind ein zentraler Bestandteil unseres Lebens. Sie beeinflussen nicht nur, wie viel wir uns leisten können, sondern spielen auch eine entscheidende Rolle für das wirtschaftliche Wohl und die soziale Stabilität einer Gesellschaft. Eine gerechte Lohnentwicklung ist daher von grosser Bedeutung. Wie der Dachverband Travail. Suisse in seinem Lohnpapier darlegt, sind zwei Faktoren für eine faire Lohnentwicklung besonders wichtig: die Inflation und die Produktivität.
Kaufkraft sichern
Die Kaufkraft gibt an, wie viel wir uns mit unserem Lohn leisten können, und ist entscheidend für unseren Lebensstandard. Steigen die Preise für Waren und Dienstleistungen (Inflation), während der Lohn gleich bleibt, sinkt unsere Kaufkraft. Wenn die Löhne nicht mit den Konsumentenpreisen mithalten, können wir uns weniger leisten. Dies verringert die Nachfrage und schwächt damit die wirtschaftliche Dynamik. Um dies zu vermeiden, sollten die Löhne mindestens im gleichen Tempo wie die Inflation steigen. Eine stabile Kaufkraft gewährleistet damit nicht nur den Lebensstandard der Arbeitnehmenden, sondern unterstützt auch die Stabilität der gesamten Wirtschaft.
Gerechte Verteilung der Produktivitatsgewinne
Nebst der Sicherung der Kaufkraft ist die Entwicklung der Produktivität der zweite zentrale Faktor bei der Ausgestaltung der Lohnforderungen. Produktivität beschreibt, wie effizient Arbeitszeit in Wertschöpfung umgewandelt wird. Wenn die Produktivität steigt, kann in der gleichen Arbeitszeit mehr produziert werden. Dies kann etwa durch neue Technologien oder effizientere Arbeitsabläufe geschehen. Aus gewerkschaftlicher Sicht sollten in solchen Fällen allerdings auch die Löhne der Arbeitnehmenden im selben Mass steigen wie die Produktivität. Andernfalls klaffen die Einkommen aus Arbeit und Kapital immer weiter auseinander.
Was das bedeutet, lässt sich mit einem einfachen Rechenbeispiel verdeutlichen. Nehmen wir ein fiktives Unternehmen mit 100 Arbeitnehmenden. Zusammen erwirtschaften sie monatlich einen Wert von 1'000'000 Franken. Alle erhalten einen Lohn von 8'000 Franken, was zu gesamten Lohnkosten von 800'000 Franken führt. Nachdem sie ausgezahlt sind, bleiben dem Unternehmen 200'000 Franken. Diese fliessen als sogenannte Kapitalerträge an die Kapitalgebenden. Der Anteil der Lohnkosten beträgt in diesem Fall 80 Prozent und der der Kapitalerträge 20 Prozent (Situation 1).
Nun folgt eine besonders gute Periode. Die Massnahmen zur Effizienzsteigerung greifen. Die Produktivität steigt um 20 Prozent und es wird ein Wert von 1 200 000 Franken erwirtschaftet. Bleiben die Löhne unverändert, steigen die Kapitalerträge auf 400 000 Franken. Der Anteil der Kapitalerträge erhöht sich damit von 20 auf 33 Prozent, während die Arbeitnehmenden nur noch 67 Prozent vom gemeinsam erwirtschafteten Kuchen erhalten (Situation 2).
Damit Arbeitnehmenden und Kapitalgebende gleichermassen von der Effizienzsteigerung profitieren, müssten die Löhne um denselben Faktor ansteigen wie die Produktivität. Das Verhältnis von Arbeits- und Kapitaleinkommen bleibt dadurch konstant (Situation 3).
Branchenunterschiede berücksichtigen
Doch ganz so einfach ist die Sache in der Praxis dann eben doch nicht. Nicht zuletzt, weil das Potenzial für Produktivitätssteigerungen von Branche zu Branche stark variiert. In Industrien wie dem verarbeitenden Gewerbe, wo technologische Innovationen häufig zu erheblichen Produktivitätssteigerungen führen, ist es einfacher, diese Effizienzgewinne zu erzielen als in Dienstleistungssektoren. Ein Haarschnitt, die Körperpflege in einem Altenheim oder die Zubereitung eines Abendessens im Restaurant können heute nicht viel schneller durchgeführt werden als früher. Würde sich die Lohnentwicklung ausschliesslich an der Produktivität der Branche orientieren, würden die Löhne von Coiffeuren, Pflegenden oder Köchen stagnieren, während die Löhne in der Industrie stark steigen. Daher ist es wichtig, dass die Lohnentwicklung nicht nur die Produktivität der eigenen Branche berücksichtigt, sondern das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum aller Branchen einbezieht. Dadurch wird eine stark unterschiedliche Lohnentwicklung zwischen den Branchen vermieden und die wirtschaftlichen Gewinne werden breiter verteilt.
Faustregel für eine gerechte Lohnentwicklung
Aus den beiden Aspekten – Anpassung der Löhne an die Konsumentenpreise und die gesamtwirtschaftliche Produktivität – lässt sich eine einfache Faustregel für eine ausgeglichene Lohnentwicklung ableiten:
Die Nominallöhne müssen grundsätzlich im Gleichschritt mit den Konsumentenpreisen und dem gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstum wachsen.
Doch genau das ist in der Schweiz eben nicht geschehen. In den letzten 20 Jahren haben die Arbeitsproduktivität – und damit die Kapitalerträge – in der Schweiz stärker zugenommen als die Reallöhne. Um dieses Ungleichgewicht zu korrigieren, sollten künftige Lohnerhöhungen diese beiden Faktoren stärker berücksichtigen. Thomas Bauer, Leiter Wirtschaftspolitik bei Travail.Suisse, betont jedoch: «Es kann Abweichungen von dieser Faustregel geben. Wenn eine Branche seit Längerem unter zu niedrigen Löhnen leidet, können die Forderungen entsprechend höher ausfallen. In Krisenzeiten gilt umgekehrt oft Zurückhaltung. » Zudem zeigt Bauer, wie Produktivitätsgewinne anders auch genutzt werden können: «Fortschritte bei Arbeitszeitverkürzungen, Ferien oder Elternurlauben können auch geringere Lohnerhöhungen rechtfertigen.» Eines bleibt jedoch klar: Die Arbeitnehmenden haben ein gerechtes Stück vom gemeinsam erwirtschafteten Wohlstand verdient.