Schweiz-EU – keine Abstriche beim Lohnschutz
Am 20. Dezember 2024 gab der Bundesrat bekannt, dass sich die Schweiz und die EU auf Anpassungen der bilateralen Abkommen geeinigt haben – mit negativen Folgen für den Lohnschutz. Um diese abzufedern, konnten sich die Sozialpartner auf ein Massnahmenpaket verständigen, das gezielt gegen die Abstriche beim Lohnschutz wirken soll.
Die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU bestehen seit über 30 Jahren. Rund 20 Verträge und mehr als 100 weitere Abkommen regeln die Zusammenarbeit. Das erste Vertragspaket, die «Bilateralen I» von 1999 umfasste Abkommen zur Personenfreizügigkeit sowie Regelungen zu Handel, Landwirtschaft, Verkehr und Forschung. Damals machte die EU Zugeständnisse, da ein späterer Beitritt der Schweiz nicht ausgeschlossen wurde.
Statische Verträge in einem dynamischen Umfeld
2004 folgte ein weiteres Vertragspaket, die «Bilateralen II», das unter anderem das Schengen-Dublin-Abkommen umfasste. Doch mit der Zeit zeigte sich, dass die bilateralen Verträge den wandelnden politischen und wirtschaftlichen Realitäten nicht mehr gerecht wurden. Die laufende Weiterentwicklung des EU-Rechts erfordert fortlaufende Anpassungen, was den administrativen Aufwand erhöht. Zudem entstanden in Bereichen wie dem Strommarkt oder der technischen Regulierung Lücken, da neue Entwicklungen nicht automatisch übernommen wurden.
Bereits ab 2008 wollte die EU mit der Schweiz ein Rahmenabkommen abschliessen, um institutionelle Fragen zu klären und eine automatische Anpassung an neue EU-Regulierungen sicherzustellen. Die Verhandlungen begannen 2014, wurden aber 2021 vom Bundesrat abgebrochen. Dies führte zu Spannungen mit der EU und hatte zur Folge, dass die Schweiz in gewissen Bereichen, wie etwa beim Forschungsprogramm «Horizon Europe», ausgeschlossen wurde.
Aktuelle Herausforderungen in den Verhandlungen mit der EU
Seit 2022 führt die Schweiz erneut Gespräche mit der EU, um die fünf bestehenden Binnenmarktabkommen – darunter Personenfreizügigkeit, Luft- und Landverkehr, technische Handelshemmnisse sowie Landwirtschaft – zu modernisieren. Zusätzlich werden neue Abkommen in den Bereichen Strom und Lebensmittelsicherheit angestrebt.
Im Dezember 2024 gab der Bundesrat bekannt, dass eine grundsätzliche Einigung über das Paket «Bilaterale III» erzielt wurde. Nun steht die innenpolitische Umsetzung an. Ein besonders strittiger Punkt bleibt der Lohnschutz: Während die EU flexiblere Regelungen für die Entsendung von Arbeitskräften fordert, bestehen die Gewerkschaften auf strikten Schutzmassnahmen, um den Lohnschutz zu sichern.
Nach intensiven Verhandlungen haben sich die Sozialpartner und der Bundesrat auf 14 flankierende Massnahmen geeinigt, um den Lohnschutz sicherzustellen. Welche Veränderungen das Abkommen vorsieht und welche Massnahmen nun ergriffen werden, erläutert Nora Picchi, Leiterin Gewerkschaftspolitik bei Syna, im Interview.
Im Dezember 2024 hat der Bundesrat eine grundsätzliche Einigung mit der EU verkündet. Welche Auswirkungen haben die «Bilateralen III» auf den Lohnschutz?
Nora Picchi: Der Vertrag sieht eine Abschwächung bestehender Schutzmechanismen vor. Ein zentrales Beispiel dafür ist die Verkürzung der Voranmeldefrist für ausländische Unternehmen. Bislang waren diese verpflichtet, ihre Arbeitskräfte acht Tage vor dem Einsatz zu melden, um den Behörden ausreichend Zeit zur Koordination von Kontrollen und zur Überprüfung der Einhaltung von Lohn- und Arbeitsbedingungen zu geben. Künftig soll diese Frist jedoch auf vier Tage reduziert werden – was die Durchführung wirksamer Kontrollen deutlich erschwert.
Zudem betrifft die Reform die Kaution für ausländische Firmen in bestimmten Branchen. Bisher mussten diese Unternehmen eine finanzielle Sicherheit hinterlegen. Diese dient der Deckung von allfälligen Kontroll- und Verfahrenskosten, Konventionalstrafen bei Verstössen gegen die Vorschriften des GAV sowie der Deckung von Vollzugskostenbeiträgen. Neu soll diese Sicherheitsleistung erst eingefordert werden, wenn bereits ein Verstoss festgestellt wurde – präventive Sicherheitsleistungen sollen entfallen.
Ausserdem soll die Schweiz die EU-Spesenregelung übernehmen. Das bedeutet, dass ausländische Unternehmen ihre eigenen, meist niedrigeren Spesensätze anwenden dürfen. Ohne begleitende Massnahmen könnte dies dazu führen, dass die Arbeitsbedingungen unter Druck geraten.
Was wurde beschlossen, damit der Lohnschutz in der Schweiz trotz der Änderungen bestehen bleibt?
Die Gewerkschaften haben darauf gedrängt, dass der Lohnschutz nicht ausgehöhlt wird. Deshalb haben wir gemeinsam mit den Sozialpartnern 14 Massnahmen entwickelt, um die Schwächungen auszugleichen.
Um die verkürzte Voranmeldefrist von nur noch vier Tagen auszugleichen, soll das Meldesystem für ausländische Unternehmen modernisiert und beschleunigt werden. Ziel ist es, dass alle zuständigen Kontrollstellen innerhalb von 24 Stunden die nötigen Informationen erhalten. So können Kontrollen rascher geplant und effizienter durchgeführt werden. Zudem müssen Unternehmen, die öffentliche Bauaufträge (auf Bundesebene und Empfehlung an die Kantone) erhalten, nachweisen, dass sie die geltenden Mindestlöhne einhalten.
Im Bauhaupt- und Ausbaugewerbe wird die sogenannte Erstunternehmer-Haftung gestärkt. Das bedeutet: Hauptunternehmen sind dafür verantwortlich, dass auch ihre Subunternehmen die geltenden Lohnvorschriften einhalten. Wenn ein Subunternehmen gegen die Regeln verstösst und die Sanktionen und Kontrollkosten nicht bezahlt, kann das Hauptunternehmen dafür haftbar gemacht werden. So wird verhindert, dass die Verantwortung einfach weitergeschoben wird.
Die EU-Spesenregelung, welche eine Anwendung ausländischer Ansätze vorsieht, soll zudem nicht umgesetzt werden. Dafür können mit einer neuen gesetzlichen Regelung und dem mit der EU vereinbarten Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» entsprechende Garantien zugesichert werden. Innenpolitisch besteht zwischen allen Akteuren ein Konsens darüber, dass in der Schweiz inländische Spesen gelten müssen.
Neu soll die Quotenregelung für die Allgemeinverbindlichkeit von Gesamtarbeitsverträgen (GAV) gelockert werden. Warum ist diese Regelung aus Sicht des Lohnschutzes so wichtig?
Gesamtarbeitsverträge legen Mindestlöhne und Arbeitsbedingungen für den organisierten Teil der Branche fest. Ihre Allgemeinverbindlichkeit bedeutet, dass sie für alle Unternehmen und Arbeitnehmenden in der Branche gelten – auch für ausländische Firmen, die in der Schweiz tätig sind. Gesamtarbeitsverträge sind daher ein sehr wichtiges Instrument, um das Lohnniveau in der Schweiz nachhaltig zu schützen. Damit ein GAV für allgemeinverbindlich erklärt werden kann, müssen verschiedene Quoren erfüllt werden:
- 50% der Arbeitgebenden der Branchen müssen organisiert sein,
- 50% der Arbeitnehmenden der Branche müssen bei einem organisierten Arbeitgeber angestellt sein
- 50% der Arbeitnehmenden müssen bei einem Arbeitnehmendenverband organisiert sein.
Das Arbeitnehmenden-Quorum kann in Ausnahmefällen unterschritten werden, die anderen zwei Quoren jedoch nicht. Dabei ist es in gewissen Branchen schwieriger geworden, das Arbeitgebenden-Quorum zu erreichen. Ohne Massnahmen ist die Allgemeinverbindlicherklärung von GAV in gewissen Branchen mittel- bis langfristig gefährdet. Die Sozialpartner sind sich einig: Um den Lohnschutz in der Schweiz zu sichern, braucht es eine Lösung. Deshalb haben sie vereinbart, dass bei der Verlängerung der Allgemeinverbindlichkeit von Gesamtarbeitsverträgen künftig mehr Ausnahmen bei den Quoten zugelassen werden sollen.
Wie beurteilst du die Erfolgschancen des Gesamtpakets – und wäre der Lohnschutz gesichert, wenn es angenommen wird?
Die Verhandlungen waren anspruchsvoll, aber mit den 14 Massnahmen haben wir eine solide und tragfähige Grundlage geschaffen, um den Lohnschutz in der Schweiz zu sichern. Wenn das Parlament das Paket als Ganzes verabschiedet, bin ich zuversichtlich, dass unsere hohen Standards erhalten bleiben. Wichtig ist, dass keine einzelnen Elemente herausgelöst oder abgeschwächt werden – nur als Gesamtpaket kann der Schutz wirksam bleiben. Deshalb sehe ich die getroffenen Vereinbarungen klar als Erfolg für den Lohnschutz.