Kaufkraft im Sinkflug
Die finanzielle Lage der Schweizer Haushalte hat sich in den letzten 40 Jahren noch nie so rasant verschlechtert wie in diesem Jahr. Die Reallöhne sinken wie nie zuvor in den letzten 35 Jahren und dies trotz Wirtschaftswachstum und tiefer Arbeitslosigkeit. Es braucht nun deutliche Lohnerhöhungen für alle Arbeitnehmenden.
Die Schweizer Volkswirtschaft hat sich nach der Pandemie rasch erholt. Der Wert der produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen ist in den vergangenen zwei Jahren deutlich angestiegen. Ein hohes Wachstum der Wertschöpfung, eine tiefe Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel – eigentlich müsste die Situation der Arbeitnehmenden hervorragend sein. Es zeigt sich aber gerade das Gegenteil: ihre finanzielle Situation verschlechtert sich teils massiv. Dafür sind vor allem drei Gründe verantwortlich: die Entwicklung der Preise, die Entwicklung der Löhne und die verzögerte Anpassung bei den Sozialtransfers (Renten, Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe).
Steigende Preise
Steigende Preise
Mit 3 Prozent liegt die Inflationsrate auf dem höchsten Niveau seit 1993. Drei Prozent Inflation bedeutet, dass für denselben Warenkorb heute 3 Prozent mehr bezahlt werden muss als im letzten Jahr. Gering- und Durchschnittsverdiener haben jedoch mit einem noch höheren Anstieg der Lebenskosten zu rechnen. Denn die Inflationsrate ist ein Durchschnittswert der gesamten Bevölkerung. Bei Arbeitnehmenden mit tiefen und mittleren Einkommen ist der Anteil, der für Wohnen und Energie ausgegeben werden muss, grösser als bei Gutverdienenden. Und genau diese Wohn- und Energiekosten steigen stark an. Damit nun keine Reallohnsenkungen erfolgen, erfordern die steigenden Preise eine Anpassung bei den Löhnen und Sozialtransfers in gleicher Höhe. Geschieht dies nicht, reduzieren Arbeitnehmende, Rentnerinnen und Rentner ihren Konsum, haben bei steigenden Zinsen Mühe ihre Mieten oder Hypothekarkredite zu bedienen oder rutschen sogar in die Armut ab.
Geringe Lohnentwicklung trotz steigender Produktivität
Travail.Suisse rechnet für dieses Jahr mit sinkenden Reallöhnen um 2.2 Prozent. Dabei haben viele Firmen in den letzten Jahren gute Geschäfte gemacht. Die Produktivität nahm jährlich um rund ein Prozent zu. Die Löhne hingegen stiegen im selben Zeitraum durchschnittlich nur um 0.6 Prozent. Die Produktivitätsgewinne wurden kaum an die Arbeitnehmenden weitergegeben. Vielmehr ging ein Grossteil davon in die Taschen der Arbeitgeberseite beziehungsweise der Aktionäre. Deshalb braucht es auf den 1. Januar 2023 kräftige generelle Lohnerhöhungen für alle Arbeitnehmenden.
Entlastungen für Familien und tiefere Einkommen gefordert
Sinkende Reallöhne und stark steigende Krankenkassenprämien im kommenden Jahr werden insbesondere Familien aus dem Mittelstand hart treffen. Bereits heute können 23 Prozent der Familien eine unerwartete Ausgabe von 2'500 Franken nicht innerhalb eines Monats bewältigen. Ein entsprechender Anstieg der Heizkostenabrechnung am Ende des Jahres wird somit nicht wenige Familien in finanzielle Schwierigkeiten bringen. Die Politik ist deshalb gefordert Entlastungen, beispielsweise über stärkere Verbilligungen für die Krankenkassenprämien, zu ermöglichen.
Fazit
Wir sind in einem Aufschwung und trotzdem verlieren Arbeitnehmende und Rentnerinnen und Rentner aktuell real an Einkommen. Die Armut wächst und bei nicht wenigen Familien wird am Ende des Jahres zu wenig Geld vorhanden sein, um alle Rechnungen zu begleichen. Dies trotz einer hervorragenden Lage am Arbeitsmarkt, herrschendem Fachkräftemangel und einer vergleichsweise tiefen Arbeitslosigkeit. Arbeitgeber und Parlament sind deshalb gefordert. Es gilt die Kaufkraft mit generellen Lohnerhöhungen, Entlastungen bei den Krankenkassenprämien und Rentenanpassungen zu sichern und zu zeigen, dass die Schweiz Solidarität und den Umgang mit Inflation nicht verlernt hat.