Stress und Erschöpfung – neuste Zahlen und Erkenntnisse
Arbeitsbedingter Stress und Erschöpfung nehmen bei Arbeitnehmenden in der Schweiz stetig zu. Es wird immer deutlicher, dass arbeitsbedingter Stress und Erschöpfung mit psychischen Erkrankungen teilweise zusammenhängen. Trotzdem wird der Einfluss der Arbeitsbedingungen auf Gesundheitskosten und Fachkräftemangel in politischen Diskussionen oft ausgeklammert.
Laut der Schweizerischen Gesundheitsbefragung berichten 23 Prozent der Arbeitnehmenden regelmässig von Stress. Im Vergleich zu anderen Studien ist dieser Wert jedoch relativ niedrig. Im «Barometer Gute Arbeit», einer repräsentativen Umfrage von Travail.Suisse und der Berner Fachhochschule, geben rund 40 Prozent der Befragten an, häufig arbeitsbedingten Stress zu erleben. Bei der Entwicklung des Stressindikators sind sich beide Studien einig: Er steigt seit mehreren Jahren konstant an.
Hohe Erschöpfung im Gesundheits- und Baugewerbe
Stress gehört zum Arbeitsalltag und ist nicht per se schädlich. Problematisch wird er jedoch, wenn Arbeitnehmende dauerhaft gestresst sind und sich nicht mehr erholen können. In diesem Fall führt arbeitsbedingter Stress zu Erschöpfung und gefährdet die Gesundheit. Laut dem «Barometer Gute Arbeit» ist die Hälfte der Beschäftigten im Gesundheitswesen und Baugewerbe nach der Arbeit so erschöpft, dass sie keine Kraft mehr für private oder familiäre Aufgaben haben. Auch im Gastgewerbe, im Detailhandel oder in der Industrie ist dieser Anteil überdurchschnittlich hoch.
Emotionale und körperliche Erschöpfung berücksichtigen
Die Ergebnisse des «Barometers Gute Arbeit» sind besorgniserregend. Die Studie betrachtet Erschöpfung umfassend und unterscheidet nicht zwischen körperlicher und emotionaler Erschöpfung. Im Gegensatz dazu fokussiert sich die Schweizerische Gesundheitsbefragung ausschliesslich auf emotionale Erschöpfung. Diese unterschiedlichen Ansätze führen zu erheblichen Abweichungen in den Ergebnissen, besonders im Baugewerbe. Während in der Schweizerischen Gesundheitsbefragung etwa 15 Prozent der Beschäftigten in dieser Branche angeben, erschöpft zu sein, zeigen die Daten des «Barometers Gute Arbeit», dass rund 50 Prozent dieser Beschäftigten von Erschöpfung betroffen sind.
Dies wirft die Frage auf, ob emotionale Erschöpfung anders zu bewerten ist als körperliche Erschöpfung. Es könnte vermutet werden, dass Mitarbeitende im Baugewerbe ihre Erschöpfung als weniger gravierend empfinden, weil sie überwiegend körperlich ist. Doch diese Annahme greift zu kurz: Über 80 Prozent der Befragten, die häufig oder sehr oft erschöpft sind, berichten, dass diese Erschöpfung stark oder eher stark belastend für sie ist. Körperliche Erschöpfung kann schnell auch das psychische Wohlbefinden beeinträchtigen. Wenn die Erschöpfung so stark ist, dass gemeinsame Abendessen ausfallen oder das Fussballspielen im Verein aufgegeben wird, entfallen wichtige Möglichkeiten des Ausgleichs zum Arbeitsalltag. Die Differenz von etwa 35 Prozent zwischen den beiden Studien verdeutlicht, dass der alleinige Fokus auf emotionale Erschöpfung zu kurz greift.
Psychische Erkrankung – ein Drittel konnte durch die Arbeit verursacht sein
Vor 20 Jahren entfielen weniger als 40 Prozent der Neurenten in der Invalidenversicherung auf psychische Erkrankungen, 2023 sind es bereits 50 Prozent. Dieser Anstieg lässt sich zum Teil durch den Rückgang der Renten aufgrund körperlicher Erkrankungen oder Unfälle erklären, aber auch durch die steigende Zahl von Neurenten, die auf psychische Erkrankungen und Nervenerkrankungen zurückgehen. Dies zeigt, dass sich die Gesundheitsrisiken im Laufe der Zeit gewandelt haben. Vor dem Hintergrund des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmenden stellt sich daher die Frage, inwieweit bestimmte Arbeitsbedingungen zur Zunahme psychischer Erkrankungen beitragen. Der Einfluss der Arbeitsbedingungen wurde derzeit in einer Studie von Scholz-Odermatt und Cherix untersucht. Diese identifiziert verschiedene Risikofaktoren, die die mentale Gesundheit von Arbeitnehmenden negativ beeinflussen. Dazu gehören unter anderem Stress, Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, schmerzhafte Körperhaltungen, häufige Arbeitsunterbrechungen sowie fehlende Anerkennung und Unterstützung. Auch Diskriminierung und Gewalt am Arbeitsplatz werden als belastend identifiziert. Insgesamt kommt die Studie zum Schluss, dass etwa ein Drittel aller psychischen Probleme von Arbeitnehmenden auf die Arbeitsbedingungen zurückzuführen sein könnte.
Arbeitnehmendenschutz statt Liberalisierung
Die Wissenschaft zeigt klar: Der arbeitsbedingte Stress nimmt weiter zu, die Erschöpfung der Arbeitnehmenden steigt und dürfte mit ein Grund sein dafür, dass psychische Erkrankungen zunehmen. Dies ist zu einem wesentlichen Teil auf spezifische Arbeitsbedingungen zurückzuführen. Viele dieser Arbeitsbedingungen können klar benannt werden und sind keine unveränderlichen Gegebenheiten. Dennoch scheinen diese Erkenntnisse in der politischen Diskussion oft ignoriert zu werden, sei es in Bezug auf Gesundheitskosten, Fachkräftemangel oder psychische Gesundheit. Anstatt die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmenden zu verbessern, wird ohne Bedenken auf Liberalisierungen im Arbeitsrecht, längere Arbeitszeiten und ein höheres Rentenalter gedrängt. Dabei müsste die Entwicklung in eine andere Richtung gehen: hin zu einem besseren Arbeitnehmendenschutz. Andernfalls läuft die Schweiz Gefahr, sich ins eigene Bein zu schiessen.