Arbeitsbedingungen 2023: Hohe Arbeitsbelastung führt zu zunehmender psychischer Erschöpfung
Die repräsentative Umfrage «Barometer Gute Arbeit 2023» bringt es deutlich zu Tage: die tiefe Arbeitslosigkeit und der spürbare Arbeitskräftemangel haben starke Auswirkungen auf die Arbeitnehmenden. Einerseits positive, indem die Sorge um den Arbeitsplatz abnimmt, andererseits aber auch negative, indem Arbeitsbelastung und Stress zunehmen. Dafür verantwortlich sind unter anderem viele Überstunden, regelmässiges Arbeiten in der Freizeit und eine Beschäftigung, die nicht dem Wunschpensum entspricht. Als Folge davon ist die Erschöpfung bei den Arbeitnehmenden auf einem Höchststand und ein steigender Anteil der Arbeitnehmenden plant einen Stellenwechsel aufgrund von zu viel Stress. Die neusten Umfrageresultate zeigen ausserdem Lücken bei der Förderung der Weiterbildung und eine nach wie vor mangelhafte Sensibilität gegenüber der Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern.
Der «Barometer Gute Arbeit» ist ein Kooperationsprojekt von Travail.Suisse, dem unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, und der Berner Fachhochschule. Er liefert seit 2015 mittels einer repräsentativen Umfrage bei Schweizer Arbeitnehmenden Ergebnisse zur Qualität der Arbeitsbedingungen in der Schweiz und ihren Veränderungen.
Hohe Arbeitsplatzsicherheit wegen tiefer Arbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel
Über die Hälfte der Arbeitnehmenden macht sich gar keine Sorgen um ihren Arbeitsplatz – so viele wie noch nie und über 10 Prozentpunkte mehr als noch 2019. Gleichzeitig werden die Chancen bei einem (freiwillig oder unfreiwilligen) Stellenwechsel eine neue Stelle zu finden als sehr gut eingeschätzt. Dennoch und trotz rekordtiefer Arbeitslosigkeit bleibt die Zahl der Erwerbslosen, die nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik erscheinen, sehr hoch. Eine Erklärung ist die mangelhafte Unterstützung bei den Weiterbildungsbemühungen. Trotz Fachkräftemangel wird die berufliche Weiterbildung der Arbeitnehmenden nicht ausreichend unterstützt. 45.4 Prozent der Arbeitnehmenden erfahren keine oder nicht ausreichende Unterstützung durch ihre Arbeitgebenden. «Es ist frustrierend, wenn trotz allerorts beklagtem Arbeitskräftemangel nicht genügend und sogar weniger als im Vorjahr in die Aus- und Weiterbildung der Arbeitnehmenden investiert wird. Gerade viele tiefer Qualifizierte und auch Teilzeitarbeitende werden alleine gelassen», so Gabriel Fischer, Leiter Bildungspolitik bei Travail.Suisse.
Erschöpfung auf einem Höchststand
Stress hat sich in den letzten Jahren als grösstes Problem der Arbeitswelt manifestiert. Für über 60 Prozent der Arbeitnehmende gehört regelmässiges Arbeiten in der Freizeit zur Arbeitsrealität, beinahe die Hälfte der Arbeitnehmenden leisten oft oder sehr häufig Überstunden und beinahe jeder und jede dritte Arbeitnehmende arbeitet mehr als das Wunschpensum. Die Folge ist ein Höchststand an Erschöpfung bei den Arbeitnehmenden. Lediglich 12 Prozent sind am Ende des Arbeitstages nie emotional erschöpft, für 41.3 Prozent ist dies hingegen oft oder sehr häufig der Fall. Und mehr als jeder und jede Dritte ist oft oder sehr häufig zu erschöpft, um sich noch um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern. Dieser Anteil hat in den letzten Jahren stetig zugenommen und befindet sich 2023 auf einem Höchststand. Als Folge davon sind psychische Probleme erstmals der Hauptgrund für eine Neurente bei der IV. Des Weiteren erwägen über 820'000 Arbeitnehmende einen Jobwechsel aufgrund von Stress und psychischen Belastungen in der Arbeitswelt. Travail.Suisse hat im Mai 2023 zehn Handlungsfelder gegenarbeitsbedingten Stress und Erschöpfung präsentiert.
«Eine hohe und zunehmende Zahl der Arbeitnehmenden will aufgrund von Stress den Job wechseln, die Erschöpfung ist auf einem Höchststand. Nicht Grippe oder Arbeitsunfälle stellen das grösste Gesundheitsrisiko dar, sondern der Stress. Das ist ein absolutes Alarmzeichen. Das neue Parlament ist aufgefordert, in der nächsten Legislatur Lösungen zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmenden und zum Wohl von Volkswirtschaft und Arbeitsmarkt zu erarbeiten», sagt Adrian Wüthrich, Präsident von Travail.Suisse.
Keine Fortschritte bei Gleichstellung und Lohngleichheit
Das revidierte Gleichstellungsgesetz verlangt von Arbeitgebenden mit mehr als 100 Mitarbeitenden eine Lohnanalyse und die Kommunikation der Ergebnisse gegenüber den Angestellten bis zum 30. Juni 2023. Es zeigt sich, dass dies oftmals nicht oder nicht in sinnvoller Art und Weise geschieht. So geben zwei Drittel der Arbeitnehmenden an, dass sie nichts von den Resultaten der Lohnanalysen wüssten. Schlimmer noch: Ein zunehmender Anteil der Arbeitnehmenden erachtet die Einhaltung der Lohngleichheit in ihrem Unternehmen als nicht gegeben. «Wenn ein Viertel der Arbeitnehmenden den Eindruck hat, dass die Lohngleichheit im Unternehmen nicht gegeben ist und gleichzeitig das Gleichstellungsgesetz keine griffigen Kontrollen und Instrumente enthält, ist dies komplett unbefriedigend. Travail.Suisse fordert alle Arbeitnehmenden auf, fehlbare Arbeitgebende auf der Plattform RESPECT8-3.CH zu melden. Es ist an der Zeit, die Farce zu beenden und das Gleichstellungsgesetz endlich zu verschärfen», fordert Léonore Porchet, Vizepräsidentin von Travail.Suisse.
Dokumente Analyse der wichtigsten Ergebnisse, Gabriel Fischer |
«Barometer Gute Arbeit»
Der «Barometer Gute Arbeit» ist ein Kooperationsprojekt von Travail.Suisse, dem unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, und der Berner Fachhochschule. Seit 2015 beleuchtet das Barometer jährlich die Qualität der Arbeitsbedingungen in der Schweiz und ihre Veränderungen, bewertet durch die Arbeitnehmenden selbst. Die Bewertung der Arbeitsbedingungen richtet sich dabei nach der Definition von guter Arbeit im Sinne von zukunftsfähiger Arbeit. Diese muss die Gesundheit der Arbeitnehmenden schützen, ihre Motivation erhalten und ihnen eine gewisse Sicherheit vermitteln.
→ Mehr zum «Barometer Gute Arbeit» und ältere Auflagen: www.travailsuisse.ch/barometer