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Der Vollblutgewerkschafter

Wie sieht der Regionalverantwortliche von Syna Genf; Fabrice Chaperon, nach über zwei Jahren bei der Gewerkschaft seine Arbeit? Was motiviert, begeistert oder empört ihn? Porträt eines Vielbeschäftigten, inmitten von dringenden Forderungen und herzhaften Lachanfällen.

Das Tram setzt mich in der Nähe der Arve ab, gerade mal 100 Meter vom Syna-Regionalsekretariat in Genf entfernt, in einem Viertel, in dem immer noch viele Arbeiterinnen und Arbeiter leben. Fabrice heisst mich an der Tür mit einem Lächeln im Gesicht und einem festen Handschlag herzlich willkommen. Wir gehen an Büros vorbei, in denen fleissig gearbeitet wird. Da und dort blicken mir beim Vorbeigehen lächelnde und neugierige Gesichter entgegen. Fabrice bittet mich, in einem sonnigen Sitzungszimmer Platz zu nehmen. Die bunten Plakate an den Wänden lassen keinen Zweifel daran, dass hier mit viel Leidenschaft Gewerkschaftsarbeit betrieben wird.

Fabrice ist ein Mann der festen Ansichten und des Handelns. Er begann seine berufliche Laufbahn in der Gastronomie, wechselte dann in die Chemiebranche, wo ihn seine Kollegen baten, in der Personalkommission mitzuarbeiten. Bevor er zu Syna wechselte, arbeitete er zwölf Jahre lang in einer anderen Gewerkschaft. Der Grund seines Wechels: der konstruktive und pragmatische Ansatz von Syna!

Im Umgang mit den Arbeitgebern setzt Syna vielmehr auf die Suche nach Lösungen, die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen mit sich bringen. Konfrontation und eine unnachgiebige Haltung bringen oft keine konstruktiven Lösungen. Diese Einstellung kommt auch dann zum Tragen, wenn andere Gewerkschaften der Meinung sind, dass sich eine Auseinandersetzung politisch auszahlen würde. Die Dialogbereitschaft von Syna heisst aber nicht etwa, dass sie nicht entschlossen auftritt. Ganz im Gegenteil: Im Rahmen der Sozialpartnerschaft verlangen die Syna-Vertreter von den Arbeitgebern, mit der Gewerkschaft auf Augenhöhe zu verhandeln. Falls ein Sozialpartner nicht bereit ist zum Dialog, wird er von den Mitgliedern umgehend durch Aktionen daran erinnert, dass er ohne sein Personal nichts tun kann. Das kann auch so weit gehen, dass die Arbeitnehmenden die Arbeit niederlegen und auf die Strasse gehen. So geschehen am 7. November 2022, als rund 2000 Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter und zu einem späteren Zeitpunkt eine noch viel grössere Anzahl von Arbeitnehmenden auf nationaler Ebene demonstrierte, um Zugeständnisse wie Lohnerhöhungen der Arbeitgebenden zu erwirken. Synas konstruktiver Ansatz trägt Früchte – manchmal erstaunliche. Fabrice erinnert sich an einen Fall im Jahr 2021: Damals teilte die Firma Pimkie vier Tage vor Weihnachten seinen neun Verkäuferinnen mit, dass sie Konkurs angemeldet hat und dichtmacht. Dies, ohne die Angestellten fristgerecht informiert zu haben. Da es sich um einen Konkurs handelt, ist der Arbeitgeber nicht mehr verpflichtet, die Löhne zu zahlen. Die Firma Pimkie gehört einer Familie, deren Vermögen zum Zeitpunkt des Ereignisses auf 27 Milliarden geschätzt wurde. Für Fabrice Chaperon war das der Gipfel des Zynismus! Zusammen mit seinem Team, insbesondere mit dem Gewerkschaftssekretär Komla Kpogli, setzte er alles daran, den Verkäuferinnen zu helfen. Diese hatten sich in ihrer Notlage an Syna gewandt. Aufgrund des ausbleibenden Lohnes kamen einige schon bald in finanzielle Engpässe. In einem erbitterten Kampf mit rücksichtslosen Anwälten des einflussreichen Konzerns, erhielt Syna unerwartete Hilfe von einem seiner Sozialpartner, mit dem die Gewerkschaft normalerweise nicht auf derselben Seite des Verhandlungstisches sitzt: Coop! Die Detailhändlerin wurde durch die Presse auf die Geschehnisse aufmerksam. Coop und Syna kennen sich schon lange und pflegen eine von gegenseitigem Respekt geprägte Sozialpartnerschaft. Nicht alle Unternehmungen in der Branche sind erbarmungslose Arbeitgeber. Die Detailhändlerin prüfte umgehend die Unterlagen der Verkäuferinnen und stellte sie kurzerhand allesamt ein.

Auf der einen Seite überglücklich über dieses unerwartete Happy End für die Arbeitnehmerinnen, hinterlässt die ganze Geschichte bei Fabrice dennoch einen bitteren Nachgeschmack: «Das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs muss unbedingt revidiert werden», betont er. «Die Arbeitgeber müssen gezwungen werden, soziale und finanzielle Verantwortung zu übernehmen. Nicht selten schieben sie diese auf die Allgemeinheit ab, nachdem sie satte Gewinne eingefahren haben.» Die Moral der Geschichte: Obwohl noch viel Arbeit vor uns liegt, für eine wirklich soziale Arbeitswelt ist die gewerkschaftliche Organisation ein wirksamer erster Schritt, um das Kräfteverhältnis auszugleichen.

Mit seiner Funktion als Arbeitnehmervertreter ist Fabrice sehr zufrieden. Doch wie geht er mit der Rolle des Vorgesetzten um? Der Regionalverantwortliche von Syna Genf hält fest, dass er das Glück hat, in einem gut funktionierenden, eingespielten Team arbeiten zu können. Die Zusammenarbeit harmoniert. Er fügt hinzu, dass er bei allfälligen internen Problemen gerne als Vermittler auftritt.

Sein langjähriger Kollege Komla Kpogli beschreibt Fabrice als «sehr menschlich, aufgeschlossen sowie offen für Bemerkungen und Vorschläge. Mit ihm geht man die Dinge ernsthaft an, ohne sich selbst zu ernst zu nehmen.» Er schätzt auch, dass Fabrice in verschiedenen Bereichen sehr kompetent ist und gerne mit anpackt. Egal ob es darum geht, den Betrieb zu gewährleisten, Fragen der Mitglieder zu beantworten oder eine Baustelle zu besuchen.

Apropos Vielfalt: Projekt- und Kampagnenleitung, Teamführung, Entwicklung der Gewerkschaft und der Sozialpartnerschaft, Kontakt zu Behörden und Politikern, Teilnahme an zahlreichen Sitzungen, Baustellenbesuche, Wahrung der Interessen der Mitglieder, Mitgliederwerbung: Sind das nicht ein bisschen zu viele Aufgaben für eine Person allein? «Im Gegenteil, es ist gerade die Vielfältigkeit meiner Arbeit, die meinen Beruf so interessant macht», antwortet Fabrice schmunzelnd. «Zudem bin ich ja wie eben erwähnt nicht allein: Ich kann mich auf mein erfahrenes und motiviertes Team verlassen.» Und durch den ihm von Syna gewährten grossen Handlungsspielraum macht ihm die Arbeit doppelt Spass.

Fabrice setzt sein Talent als Verhandlungspartner, Vermittler und pragmatischer Aktivist auch über die gewerkschaftlichen Grenzen hinaus ein. Innerhalb des Gemeinderates von Nyon kann er dies ebenfalls unter Beweis stellen. Diese Kenntnisse über die gewerkschaftlichen und politischen Strukturen und Realitäten, mit denen die Arbeitnehmenden tagtäglich konfrontiert werden, sind für Fabrice von unschätzbarem Wert. Wenn er mit einer neuen Situation oder einem neuen Problem konfrontiert wird, kann er es in seiner ganzen Komplexität angehen. Dazu geht er manchmal auch Bündnisse ein, die manche für ungewöhnlich halten, wie beispielsweise jenes zum Elternurlaub mit den Grünliberalen. Auch wenn Fabrice bei weitem nicht alle Ideen der Grünliberalen teilt, hindert ihn das nicht daran, mit ihnen ein Zweckbündnis einzugehen. Das Resultat gibt ihm Recht, denn der Elternurlaub von 24 Wochen wurde in Genf mit über 57 Prozent der Stimmen angenommen. Fabrice hofft nun, dass er auch auf nationaler Ebene realisiert werden kann: «Es ist eine für Syna massgeschneiderte Vorlage, welche die Familie und den Menschen in den Mittelpunkt stellt», unterstreicht er.

Gibt es eine andere Angelegenheit, die ihm besonders am Herzen liegt? «Wenn ich nur eine nennen dürfte, dann wäre dies die Krankentaggeldversicherung. Wenn sie für Arbeitgeber obligatorisch wäre, könnten viele unerfreuliche Situationen vermieden werden.»

Ein Wunsch für die Zukunft? Fabrice ist den Mitgliedern unendlich dankbar. Es ist nämlich ihnen zu verdanken, dass die Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmenden verbessert werden konnten. Weniger Arbeitsstunden, mehr Ferien, Ausbau der Sozialversicherungen, Lohnerhöhungen und mehr Sicherheit am Arbeitsplatz – all diese Errungenschaften, die die meisten Arbeitnehmenden als selbstverständlich erachten, sind das Resultat gewerkschaftlicher Arbeit. Fabrice bedauert die Tatsache, dass nur wenige sich dafür starkmachen und eine desinteressierte Mehrheit auch davon profitiert. Er wünscht sich, dass alle Arbeitnehmenden von der Notwendigkeit überzeugt werden können, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Denn Solidarität ist mehr als nur eine moralische Haltung und weit mehr als nur ein schönes Wort: Sie ist eine Kraft!

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