Zum Hauptinhalt springen

Angriffe auf das Fundament der Sozialpartnerschaft

In jüngster Zeit greifen einzelne Arbeitgeberverbände die Sozialpartnerschaft sowohl medial als auch politisch an. Angriffe, die schwerwiegende Folgen für die Arbeitnehmenden haben könnten, besonders für den Lohnschutz.

Ein prägendes Element des Schweizer Arbeitsmarkt ist die Sozialpartnerschaft. Sie beschreibt die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden, welche oft durch deren Verbände und Gewerkschaften repräsentiert werden. Die Sozialpartnerschaft basiert auf dem Grundgedanken, Konflikte durch Dialog und Kooperation zu lösen, statt durch Konfrontation oder staatliche Interventionen. Das bedeutendste Instrument dabei sind die Gesamtarbeitsverträge (GAV).

Was ist ein GAV?

Ein GAV ist ein Vertrag, der zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften ausgehandelt wird. Er legt Branchenstandards fest, an die sich alle organisierten Arbeitgebenden der Branche halten müssen. Dazu gehören beispielsweise Mindestlöhne, maximale Arbeitszeiten, Ferienansprüche oder auch die Finanzierung von Aus- und Weiterbildungsfonds. Grundsätzlich bestehen drei Arten von Gesamtarbeitsverträgen: Solche die für ein einzelnes Unternehmen gelten (Betriebs-GAV), solche, die nur von den beteiligten Arbeitgebenden eingehalten werden müssen (Verbands-GAV) und allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge, die für alle Unternehmen einer Branche gelten (AVE GAV). Ob ein GAV für allgemeinverbindlich erklärt wird, bestimmt der Bundesrat, doch müssen dabei drei Bedingungen (sogenannte Quoren) erfüllt sein:

  1. Mehr als die Hälfte der betroffenen Mitarbeitenden müssen in den antragstellenden Gewerkschaften organisiert sein (Arbeitnehmerquorum).
  2. Mehr als die Hälfte der betroffenen Arbeitgebenden müssen in den antragstellenden Verbänden organisiert sein (Arbeitgeberquorum).
  3. Mehr als die Hälfte der betroffenen Beschäftigten müssen in den Firmen der antragstellenden Arbeitgeberverbände angestellt sein (gemischtes Quorum).
Wie werden die GAV umgesetzt?

Um sicherzustellen, dass die Regeln des GAV eingehalten werden, zahlen Arbeitgebende und Arbeitnehmende sogenannte Vollzugsbeiträge. Diese werden dazu verwendet, die Einhaltung des GAV zu überwachen. Zusätzlich gibt es Weiterbildungsbeiträge, die zur Förderung der Weiterbildung der Arbeitnehmenden verwendet werden.

Von den im GAV festgelegten Standards und dem Weiterbildungssystem profitieren alle Angestellten, unabhängig davon, ob sie Gewerkschaftsmitglieder sind oder nicht. Um Trittbrettfahrer zu vermeiden, müssen alle einen Berufsbeitrag in den Vollzugs- und Weiterbildungsfonds einzahlen. Die Gelder werden paritätisch verwaltet, sprich, sowohl Vertreter der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite sind beteiligt.

Berufsbeiträge trotz Verbandsmitgliedschaft? Doppeltes Zahlen verhindern

Sowohl die Arbeitgeberverbände als auch die Gewerkschaften finanzieren sich durch Beiträge ihrer Mitglieder. Diese Beiträge ermöglichen es den Verbänden, die notwendigen Ressourcen für die Ausarbeitung der GAV bereitzustellen. Durch ihre Mitgliederbeiträge ermöglichen die Mitglieder der vertragsschliessenden Parteien das Aushandeln der Gesamtarbeitsverträge, von welchen letztlich auch nicht organisierte Arbeitnehmende profitieren. Um zu verhindern, dass die organisierten Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden doppelt belastet werden – sowohl durch Mitgliedsbeiträge als auch durch die Berufsbeiträge – erhalten sie in der Mehrheit der Branchen eine Teilrückerstattung.

Kritik an der gängigen Praxis

Genau diese Rückerstattungspraxis stellt der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) nun infrage. In einer Medienkampagne unterstellt er den Gewerkschaften, einen Teil der Berufsbeiträge aus dem Parifonds, dem Vollzugsund Weiterbildungsfonds des Bauhauptgewerbes, in die eigenen Taschen abzuzweigen. Dabei fliessen die Rückerstattungen direkt an die gewerkschaftlich organisierten Bauarbeiter und nicht in die Gewerkschaftskasse. Die Abschaffung der Rückerstattungen hätte eine Doppelbelastung für gewerkschaftlich organisierte Bauarbeiter. Diese Benachteiligung der Gewerkschaftsmitglieder, mit Mehrkosten von bis zu 400 Franken jährlich, ist aus unserer Sicht nicht tragbar. Das bestehende System mit den Rückerstattungen wird vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) jährlich überprüft und für korrekt befunden

GAV vs. kantonale Regeln? Motion Ettlin

Nicht nur medial, auch politisch nimmt der Druck zu. Die Motion (20.4738) des Mitte-Politikers Erich Ettlin verlangt, dass die Bestimmungen eines allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrags zu Mindestlohn, 13. Monatslohn und Ferienanspruch anderslautenden kantonalen Bestimmungen vorgehen sollen. Immer mehr Kantone führen regionale Mindestlöhne ein. Diese sind teilweise höher angesetzt als die Mindestlöhne in den allgemeinverbindlichen GAV. Die Motion verlangt nun, dass in solchen Fällen der tiefere Mindestlohn des allgemeinverbindlichen GAV und nicht der kantonale angewendet werden soll, selbst wenn dies die kantonalen Regelungen nicht explizit so vorsehen.

Für uns ist die Ausgangslage klar: Gesamtarbeitsverträge dürfen nur zugunsten der Arbeitnehmenden ausgelegt werden (Günstigkeitsprinzip). Sieht beispielsweise die kantonale Regelung mehr Ferientage vor als der GAV, gelten die kantonalen Regelungen. Sind die kantonalen Regelungen schlechter, gilt in diesem Bereich der allgemeinverbindliche GAV. Des Weiteren wirft die Motion auch aus demokratiepolitischer Perspektive Fragen auf. Aus unserer Sicht sind kantonale demokratisch gefällte Entscheide höher zu werten als allgemeinverbindliche GAV. Eine Ansicht, die so auch der Bundesrat teilt.

Allgemeinverbindlichkeit unter Druck: Vorstoss Burgherr

Die Hürde, dass ein GAV für allgemeinverbindlich erklärt werden kann, ist mit den 50-Prozent-Quoren sehr hoch. Die Quoren stammen noch aus den 1950er-Jahren. Die Arbeitswelt hat sich seither stark verändert und ist deutlich kurzlebiger geworden. Dies erschwert es den Gewerkschaften, die vorgegebene Hälfte der Arbeitnehmenden einer Branche zu organisieren.

Die Verfassung berücksichtigt diesen Umstand und ermöglicht es dem Bundesrat, «bei besonderen Verhältnissen » einen GAV auch dann für allgemeinverbindlich zu erklären, wenn das Arbeitnehmerquorum nicht erreicht ist. Stand Juni 2023 sind in der Schweiz 82 GAV allgemeinverbindlich, wobei der Bundesrat bei rund zwei Dritteln der Verträge auf diese Regelung zurückgreifen muss.

Thomas Burgherr, Aargauer SVP-Nationalrat und Mitglied der Wirtschaftskommission, hat einen Antrag gestellt, dass solche Ausnahmen nur noch gewährt werden dürfen, wenn die unterzeichnenden Gewerkschaften mindestens 40 Prozent aller Angestellten repräsentieren. Diese zusätzliche Hürde würde dazu führen, dass viele GAV ihre Allgemeinverbindlichkeit verlieren würden.

Mögliche Folgen der Angriffe

Die drei Beispiele zeigen deutlich: Die Sozialpartnerschaft ist unter Druck. Besonders gravierend wäre die Einführung der Quoren-Regelung bei «besonderen Verhältnissen », wie Burgherr sie fordert für den Lohnschutz. Die Löhne in unseren Nachbarländern liegen deutlich unter denen in der Schweiz: In Frankreich und Italien entsprechen sie etwa 56 Prozent des Schweizer Lohnes, in Deutschland sind es 75 und in Österreich 90 Prozent. Je grösser die Lohndifferenz, desto stärker ist der Druck auf das inländische Lohnniveau. Um die Schweizer Löhne zu schützen, ist es daher zentral, dass Mindestlöhne definiert werden. Dies kann am effektivsten durch einen allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsvertrag erreicht werden. Solche Verträge sind nicht nur für alle Schweizer, sondern auch ausländische Arbeitgebenden der Branche zwingend, die Aufträge in der Schweiz ausführen. Auch einige Arbeitgeberverbände machen sich für die allgemeinverbindlichen GAV stark. Im Baunebengewerbe, beispielsweise bei den Plattenlegern, unterstützen die Verbände diese Verträge, um sich gegen die deutlich billigere Konkurrenz aus dem Ausland zu schützen.

Allgemeinverbindlichkeit wirkt

Dass sich allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge positiv auf den Lohnschutz auswirken, lässt sich eindrücklich am Kanton Tessin aufzeigen. Zwischen 2010 und 2020 stiegen dort die Löhne im Durchschnitt um 5 Prozent. Besonders bemerkenswert ist, dass in vielen Branchen ohne allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsvertrag und etablierte Sozialpartnerschaft die Löhne im gleichen Zeitraum teilweise deutlich sanken. So verzeichneten Architektur- und Ingenieurbüros einen Rückgang um 2 Prozent, die Informatikbranche um 6 Prozent, die Industrie um 4 Prozent und in der Logistikbranche sanken die Löhne sogar um 20 Prozent.

Gesamtarbeitsverträge, insbesondere die allgemeinverbindlichen, sind elementar für gute Arbeitsbedingungen und den Lohnschutz in der Schweiz. Daher ist es umso wichtiger, dass sich die Arbeitnehmenden organisieren, um die Position der Arbeitnehmerverbände zu stärken und die Gesamtarbeitsverträge vor Angriffen der Arbeitgeber zu schützen.

Ähnliche Beiträge

Cookies erleichtern die Bereitstellung unserer Dienste. Mit der Nutzung unserer Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden.
Weitere Informationen Ablehnen Akzeptieren