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Braucht es neue Arbeitszeitmodelle?

Kaum irgendwo in Europa arbeiten Vollzeitangestellte länger als in der Schweiz. Gleichzeitig belegen verschiedene Studien eine stetige Zunahme von arbeitsbedingtem Stress, Erschöpfung und Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Diskussion um eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit oder um eine Einführung einer Vier-Tage-Woche kommt deshalb zum richtigen Zeitpunkt. Die Ansätze zielen aber teilweise an den Bedürfnissen der Arbeitnehmenden vorbei.

Gewerkschaften und Berufsverbände führen traditionell zwei zentrale Auseinandersetzungen, diejenige über den Wert der Arbeit und diejenige über die Arbeitszeit. Erstere widerspiegelt sich vor allem in der Lohn- und Verteilungsfrage, letztere in der Arbeitsdauer und der Arbeitsflexibilität. Während bei der Lohnfrage in den letzten Jahrzehnten Fortschritte erzielt werden konnten, verharrt zumindest die gesetzliche Arbeitszeit mit 45 bzw. 50 Stunden auf dem Niveau der 70er-Jahre. Mit 42.7 Arbeitsstunden pro Woche arbeiten Vollzeitangestellte in der Schweiz europaweit am meisten. Auch betreffend bezahlten Ferienanspruch belegt die Schweiz mit vier Wochen gemeinsam mit Grossbritannien den letzten Platz.

Stress und mangelnde Vereinbarkeit

Dieselben gesetzlichen Rahmenbedingungen wie vor 50 Jahren werden den heutigen Arbeits- und Lebensbedingungen nicht mehr gerecht. Die Erwerbstätigkeit bei Eltern hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Gleichzeitig hat die stetig steigende Produktivität das Arbeitstempo stark erhöht. Zugleich fällt es infolge der zunehmenden Individualisierung und Digitalisierung immer schwieriger, sich von der Arbeit abzugrenzen. Und nicht nur die wöchentliche Arbeitszeit und das gestiegene Tempo sind fordernd. Auch die Planbarkeit der Arbeitszeiten ist zentral für die Stressreduktion und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Flexibilität des Schweizerischen Arbeitsgesetzes gibt den Arbeitgebenden grossen Spielraum auf Kosten der Arbeitnehmenden. So sieht die Verordnung 1 des Arbeitsgesetzes beispielsweise eine Bekanntgabe der Einsatzpläne «in der Regel zwei Wochen vor einem geplanten Einsatz mit neuen Arbeitszeiten» (Art. 69, Abs. 1) vor. Damit entspricht die Regelung schon lange nicht mehr den gesellschaftlichen Erfordernissen. Längstens nicht nur erwerbstätige Eltern brauchen frühzeitig Kenntnis darüber, wann sie arbeiten müssen. Auch bei den Überstunden, welche den Arbeitnehmenden aufgebürdet werden können, sowie der Verteilung der Arbeitszeit über den Tag stellt das Arbeitsgesetz die Bedürfnisse der Arbeitgebenden ins Zentrum und erlaubt ihnen dadurch, betriebliche Risiken auf ihre Angestellten abzuwälzen.

Unterschiedliche Bedürfnisse

Mit Blick auf die Gesundheit der Arbeitnehmenden, die Vereinbarkeit und die Gleichstellung braucht es Fortschritte bei der Reduktion der Arbeitszeit. Die bestehenden Vorschläge zur Anpassung der Arbeitszeit umfassen im Wesentlichen die Einführung einer 4-Tage-Woche bei gleicher Arbeitszeit, eine 35-Stunden-Woche oder ein Recht auf Teilzeitarbeit. Doch keiner dieser Vorschläge entspricht den Bedürfnissen aller Arbeitnehmenden, da sich diese je nach Branche und Einkommen stark unterscheiden. Für viele Teilzeitarbeitende – ein grosser Teil davon Frauen – würde sich die Situation beispielsweise weder in Bezug auf den arbeitsbedingten Stress noch auf die Vereinbarkeit wesentlich verbessern, wenn sie die Arbeitszeiten nicht frühzeitig planen können und die Möglichkeit, ihnen Überstunden aufzubürden, im heutigen Mass erhalten bleibt. Gleiches gilt für die Einführung einer 4-Tage-Woche bei gleicher Arbeitszeit mit 10,5-Stunden-Tagen. Auch hinsichtlich der gesundheitlichen Belastung ist eine Konzentration der gleichen Arbeitsmenge auf vier Tage zumindest fragwürdig und nur für einzelne Gruppen von Arbeitnehmenden realistisch. Das Recht auf Teilzeitarbeit wiederum ist nur für jene Arbeitnehmenden eine Option, deren Löhne eine Reduktion des Pensums und damit des Einkommens überhaupt zulassen. Sie wären vielmehr auf bessere Löhne, planbare Arbeitszeiten und weniger Flexibilität bei der Überzeit angewiesen.

Sozialpartnerschaft als Schlüssel

Je nach individueller Arbeitssituation werden Planbarkeit, Flexibilität, Ferien, tägliche Höchstarbeitszeit oder die Anzahl Arbeitstage unterschiedlich gewichtet. Deshalb bieten sozialpartnerschaftliche Ansätze bei der Arbeitszeitgestaltung differenziertere Möglichkeiten bei der Wahrnehmung der Bedürfnisse der Arbeitnehmenden als übergeordnete gesetzliche Regelungen. Nichtsdestoweniger braucht es in gewissen Bereichen im Arbeitsgesetz (z. B. Überzeit) und im Obligationenrecht (z. B. Anzahl Ferienwochen) gesetzliche Regelungen, die für alle Arbeitnehmenden endlich wieder Fortschritte ermöglichen.

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