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«Ich wollte nicht die bequeme Rolle der unsichtbaren Frau spielen»

Schon während des Studiums anfangs 1970er Jahre setzte sich Nathalie Frieden für die Rechte der Frau ein. Anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Frauenstimmrechts erzählt sie ihrem Sohn Diego, Zentralsekretär bei Syna, wie sie diese Zeit damals erlebt hat und wo sie heute die grössten Probleme sieht.

Diego: Vor 50 Jahren erlebte die Schweiz mit der Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene einen historischen Moment. Erinnerst du dich an diesen 7. Februar?

Nathalie: Damals war ich Studentin und noch nicht Schweizerin. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag. Ich fand das so spät, so überfällig, das hat mich schockiert. Vor allem wenn ich Männer – und Frauen! – sagen hörte, das würde unzählige Probleme mit sich bringen. Dabei war das für mich doch so normal.

Welche Argumente haben deiner Meinung nach die Schweizer Männer dazu bewogen, für das Frauenstimmrecht zu stimmen?

Die Tatsache, dass es bereits die zweite Abstimmung zu dem Thema war; in der Schweiz braucht es immer etwas länger! Die Schweiz schämte sich, so weit hinter dem Rest Europas und sogar der Welt zurückzuliegen.

Wie war die Einstellung der Männer in deinem Umfeld? Waren sie bei diesem Thema eher passiv oder aktiv?

Ich wohnte zu der Zeit in Freiburg und studierte Philosophie (wir waren 7 Frauen und 120 Männer!). Die Männer waren sehr konservativ und gegen das Frauenstimmrecht. Sie rühmten die Schweiz dafür, es noch nicht eingeführt zu haben und sahen das als grosses Glück! Dieses feindselige Klima hat dazu beigetragen, dass ich Feministin wurde – denn es gab keine Alternative! Ich wollte nicht die bequeme Rolle der unsichtbaren Frau einnehmen.

Und wie hast du dich ihnen gegenüber verhalten?

Ich war schon immer sehr kämpferisch. Und ich habe mich engagiert, wo ich auch konnte. Zum Beispiel sollte ich aufgrund meines Alters Vorsitzende der Sektion der Philosophiestudierenden werden. Da beantragte ein Mann, einen männlichen Co-Präsidenten zu ernennen, um mich zu unterstützen, was sehr erniedrigend war. Aber ich war es gewohnt…

Als Doppelbürgerin hattest du in Italien das Wahlrecht bereits mit 18 Jahren. Wie erklärst du dir den Unterschied zwischen den beiden Ländern?

In Italien habe ich sogar an meinem 18. Geburtstag gewählt! Der Unterschied ist, dass die Schweiz nicht so ein schreckliches Kriegsende erlebt hat wie Italien. Mit der Befreiung wurde auch die Rolle der Frauen während des Krieges anerkannt und sie erhielten 1946 das Wahlrecht.

«Ich war schon immer sehr kämpferisch. Und ich habe mich engagiert, wo ich auch konnte.»

Nathalie Frieden
Und deine erste Abstimmung in der Schweiz?

Erst nach meiner Hochzeit wurde ich Schweizerin. Ich erinnere mich nicht an das Thema meiner erste Abstimmung, aber ich habe diese Erfahrung sehr genossen. Später sind wir oft als Familie zusammen Abstimmen gegangen, um euch dessen Bedeutung zu vermitteln.

Das allgemeine Stimm- und Wahlrecht ist nur ein Element der Gleichberechtigung. Welche Kämpfe müssen in der Schweiz noch geführt werden, und welche sind „deine"?

Ach es gibt so viele! Wie bei jeder Feministin ist mein Engagement geprägt von meinem persönlichen Weg. Ich habe gegen die Situationen gekämpft, die mir am ungerechtesten erschienen. Ich möchte vor allem die Lohnungleichheit hervorheben. Als ich zu unterrichten begann, war ich 20 Jahre alt. Damals gab es 4 Lohnkategorien: Mann, Frau, Geistlicher und Geistliche. Vier unterschiedliche Löhne für genau dieselbe Arbeit! Ich finde es erstaunlich, dass die Ungleichheit heute noch existiert. Und doch scheint sie immer noch weithin akzeptiert!

Eine andere Sache, die sich nicht geändert hat: Belästigung, Vergewaltigung, Körperverletzung von Frauen. In der Schweiz wurde eine von 5 Frauen geschlagen oder vergewaltigt. So etwas prägt für das ganze Leben. Sexistische Witze haben immer noch viel Platz in unserer Gesellschaft. Das ist meiner Meinung nach ein grosses Versagen der Sexualerziehung! Ich wünsche mir, dass jede Frau selbst entscheiden kann, ob sie einen BH tragen will oder nicht, oder eine Burka.

2071 werden wir das 100. Jubiläum des allgemeinen Wahlrechts feiern. Wie stellst du dir bezogen auf die Gleichberechtigung eine ideale Schweiz vor?

Eine Schweiz ohne sexistische Rhetorik und Gesten, in der Lohngleichheit herrscht und in der Frauen endlich alle Mittel zur Verfügung haben um frei entscheiden zu können, ob sie arbeiten wollen oder nicht. Ich möchte dass alle Frauen – auch die Ärmsten – eines Tages Christine Lagarde oder Kamala Harris werden können, nicht nur die Privilegierten.

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