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«Die Gesundheit ist kein Business!»

Frédéric Fischer ist seit fast 30 Jahren im Neuenburger Spitalwesen tätig. In diesem Interview zieht er sein Fazit über die Auswirkung der Coronakrise auf das Gesundheitswesen. Der 51-jährige Datenspezialist hofft, dass aus der Krise eine bessere Gesellschaft hervorgehen wird. Zudem stellt der überzeugte Humanist die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in den Raum.

Woraus besteht deine Arbeit und was gibt sie dir? 

Frédéric Fischer: Als Datenspezialist verwalte ich die Daten der Patienten und die interne Dokumentation. Ich strukturiere die medizinischen Informationen so, dass die Ärzt/-innen und das Pflegepersonal darauf zugreifen können. An meiner Tätigkeit schätze ich vor allem den Kontakt mit Personen aus allen Berufen und mit verschiedenen Hintergründen. Das macht das Gesundheitswesen aus: Gemeinsam arbeiten wir für dasselbe Ziel.

Wie hast du die Coronakrise erlebt? 

 Obwohl ich nicht in der ersten Reihe stand, war da trotzdem eine Angst, denn man weiss nie, ob die Menschen, mit denen man in der Arbeit zu tun hat, infiziert sind. Oder vielleicht bin ich es selber, ohne es zu wissen? Ich habe alle erdenklichen psychischen Phasen durchlebt – aber nach und nach habe ich mich an die Situation gewöhnt. Die Angstgefühle werden schwächer mit der Zeit, man baut sich bessere Schutzbarrieren auf. Dasselbe war zu Hause: Ich versuchte, Arbeit und Privatleben so gut als möglich zu trennen.

Welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten bist du während der Krise begegnet? 

Man musste die Arbeit anders organisieren. Wir konnten uns ins Home Office begeben. Auch musste ich lernen, den ganzen Tag eine Maske zu tragen. In der Spitalverwaltung sind die Arbeitsplätze oft nah beeinander, es ist nicht immer möglich, den Sicherheitsabstand einzuhalten.

Konntest du auf die Unterstützung deiner Vorgesetzten zählen?

Ja. Wir wurden von der Institution und von allen Seiten auf der ganzen Linie unterstützt. Wir erhielten eine tägliche Info über die Covid-19-Patienten, Anweisungen, wie wir uns schützen können und Erklärungen zu Problemen wegen der Geräteversorgung. Natürlich passierten auch Fehler – all diese Informationen, die praktisch jeden Tag änderten, können destabilisieren oder Ängste auslösen.

Und die Unterstützung durch die Behörden? 

Diese haben grosse Arbeit geleistet, um das Funktionieren unserer Gesellschaft trotz Krise aufrechtzuerhalten; sei es auf nationaler oder kantonaler Ebene. Im Allgemeinen denke ich, dass wir die Krise gut gemeistert haben. Eine dunkle Wolke hat jedoch mein Vertrauen in unsere Behörden getrübt: Die Aufhebung der Höchstarbeitszeiten durch den Bundesrat mit der Möglichkeit, das Gesundheitspersonal für unbestimmte Stunden arbeiten zu lassen. Diese Entscheidung hätte einige Personen ins Burnout treiben können. Glücklicherweise hatte der Entscheid in unserem Kanton keine Auswirkungen, insbesondere wegen unseres Gesamtarbeitsvertrags.

Der GAV Santé 21 ist also essenziell? 

Ja. Arbeitnehmende genauso wie ein Grossteil der Arbeitgeber konnte sich beim Reorganisieren der Arbeit auf den GAV stützen und darauf zählen, dass keine Missbräuche begangen wurden. Er hat die Arbeitnehmenden wesentlich geschützt und verpflichtete die Arbeitgeber, Gewerkschaften und andere Sozialpartner in die Planung einzubeziehen.

Wie beurteilst du den Rückhalt der Bevölkerung in der Krise? 

Die Bevölkerung hat mitgespielt und ist zu Hause geblieben. Das war das wichtigste und gleichzeitig oft das schwierigste. Sie hat auch applaudiert, um sich bei den Mitarbeitenden an der Front zu bedanken, vor allem bei den Pflegenden, aber auch bei allen anderen, die für uns im Einsatz standen. Dieser indirekte Unterstützung hat meine Motivation gestärkt.

Was hat dich die Coronakrise gelehrt? 

Ich hätte nie gedacht, dass ich mich so leicht einschüchtern lassen würde von einem mikroskopisch kleinen Virus. Ich habe gelernt, anders zu arbeiten und ich hatte die grosse Chance, regelmässig zu Hause zu arbeiten. Ich fühle mich privilegiert gegenüber allen, die in Kurzarbeit geschickt wurden oder sogar ihre Arbeit verloren. Wir hatten auch weniger Patienten im Notfall mit kleinen «Bobos». Wenn die Patienten weiter auf diesem Kurs fahren, haben wir alle gewonnen! Ich hoffe, dass die gegenseitige Hilfe und die Solidarität noch stärker werden, sowohl in den Unternehmen als auch in der Gesellschaft generell.

Der Applaus war schön. Aber reicht er? 

Heikle Frage. Ich, der nicht direkt vom Applaus betroffen war, denke, dass meine Kolleginnen und Kollegen in der ersten Reihe ihn verdient haben. Genauso wie alle Berufe, die es uns erlaubten, mehr oder weniger normal weiterzuleben. Aber eigentlich reicht das nicht! Das Gesundheitswesen der öffentlichen Hand wurde in Konkurrenz gesetzt zu privaten Einrichtungen, die nur Behandlungen durchführen, die sich lohnen und die keine Verpflichtungen zum Service Public haben. Dieses ungerechte System hat die Spitäler zu drastischen Einschnitten beim Personal und sogar bei ihren Dienstleistungen gezwungen, wobei alles auf Rentabilität und Effizienz ausgerichtet ist. Man muss dieses Gesundheitswesen ändern.

«Aus meiner Sicht müssen alle etwas erhalten, die für das Weiterfunktionieren unserer Gesellschaft gesorgt haben.»

Frédéric Fischer, 51 
Spezialist für Datenmanagement, Neuchâtel
Syna-Mitglied seit 12 Jahren
Bist du für eine Prämie, eine Form der Anerkennung für den Einsatz und die eingegangenen Risiken während der Krise? 

Ja, aber eine echte Prämie! Ein 14. Monatslohn oder mindestens 3000 Franken Steuererlass. Die Mitarbeitenden müssten wählen können, ob sie Geld oder Ferientage erhalten wollen. Aus meiner Sicht müssen alle etwas erhalten, die für das Weiterfunktionieren unserer Gesellschaft gesorgt haben. Man müsste aber die Prämie bei hohen Löhnen zurückhalten. Kaderangestellte, die mehr als 8000 oder 10000 Franken verdienen, haben sie nicht nötig.

Und langfristig, was muss sich ändern? 

Die Arbeitsbedingungen und die Personalressourcen müssen verbessert werden und die Löhne in allen Gesundheitsberufen müssen aufgewertet werden. Man muss auch die Art der Finanzierung des Systems überdenken. Der Profit oder die Bereicherung einiger im Management dürfte nicht existieren im Gesundheitswesen, sie es auf privater oder öffentlicher Ebene. Die Gesundheit ist kein Business! Generell wird harte Arbeit in unserer modernen Gesellschaft schlecht bezahlt. Jeder, der arbeitet, sollte in der Lage sein, davon anständig zu leben. Vielleicht müssen wir die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens wieder aufnehmen?


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